Europa - eine Strategie by Kösel

Europa - eine Strategie by Kösel

Autor:Kösel [Kösel]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-10-06T04:00:00+00:00


MITVERANTWORTUNG

Eine neue weltpolitische Epoche beginnt nicht über Nacht von einem Tag auf den anderen – auch nicht durch ein Fingerschnippen eines amerikanischen Präsidenten oder ein Strategiepapier des Planungsstabes im State Departement in Washington.

Eine neue weltpolitische Architektur bedarf der mittelfristigen Vorbereitungs- und Inaugurationsphase politisch-kultureller, sicherheitspolitischer und ökonomischer Art. So war es bei der Ära des Nationalstaates, so war es bei Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Übergang zum Ost-West-Konflikt ebenso wie mit Ende des weltpolitischen Antagonismus und so ist es auch heute.25

Also fahnden wir nicht nach einem spezifischen Wahlkampfauftritt oder einem spezifischen Interview Barack Obamas, einer Rede von Mario Draghi, einer Erklärung von Angela Merkel, sondern nach den großen Gewichtsverschiebungen weltpolitischer Perspektiven.

Der Westen war über viele Jahrzehnte von einer elementaren, gemeinsamen Idee getragen und motiviert: Das Ethos der Freiheit muss sich weltweit Geltung verschaffen. Das Ethos der Freiheit ist zu übersetzen in weltpolitische Mitverantwortung. Das macht Amerikas und Europas Sonderstellung aus.

Idealtypisch greifbar wurde dies im großen weltpolitischen Ost-West-Konflikt, dessen Dramatik den Schauplatz Europa hatte: Freiheit gegen Unfreiheit, Marktwirtschaft gegen Planwirtschaft, Menschenbild West (der Mensch als Person) gegen Menschenbild Ost (der Mensch als Gattungswesen).

Dies bot eine große historische Prägung – verbunden mit dem Erfolg der westlichen Idee. Heute müssen wir zunächst festhalten: Nichts ist transatlantisch in Marmor gemeißelt. Das historische Kulturprodukt, komponiert aus politischen Erfahrungen, politischen und ökonomischen Interessen, aus Zielen und Werten, Hoffnungen und weltpolitischen Orientierungen, ist immer neu zu justieren. Hier einfach die alten Reden zu wiederholen mit all dem Pathos – es würde merkwürdig klingen. Aber nun gilt: Diese große weltpolitische Architektur, diese große kulturelle Prägung ist Vergangenheit – bestenfalls zu nutzen für kleinere nostalgische Erwärmungen.

Die Weltpolitik weist zwei neue Aggregatzustände auf:

Erstens ist sie wirklich multipolar geworden. Zur Lösung von Problemen reicht nicht mehr der Hinweis auf eine dominante Weltmacht. Das packt weder Amerika noch China. Die Liste ist erheblich länger geworden: Indien, Japan, Brasilien, Russland – und: Europa. Europa ist auf Grundlage seiner dramatischen Integrationsfortschritte der letzten 20 Jahre zu einem festen Bestandteil der weltpolitischen Machtarchitektur geworden.

Und zweitens hat die Digitalisierung die Globalisierung zur Erfahrung eines jeden Details – sei es nun in Berlin, Brüssel, Peking, Washington, Neu- Delhi passiert – in Jetztzeit gemacht. Diese tiefe Globalisierung wird in jeder Krisenerfahrung greifbar. Nichts ist mehr in insularer Selbstbezogenheit zu erfassen. Geradezu symbolisch verdichtet erscheint ein solcher Sachverhalt, wenn der deutsche Finanzminister innerdeutsche Steuerprobleme in Singapur verhandelt – und nicht mehr bloß in der nachbarlichen Schweiz.

Diese globalisierte multipolare Welt bietet für den Westen zwei alternative Handlungsperspektiven: Entweder man wird von Ereignissen, Problemen, Schwierigkeiten überrollt und zum hilflosen Opfer der Gegebenheiten – oder man wird zum mitverantwortlichen Mitgestalter. Der Westen hat diese Frage grundsätzlich, normativ entschieden. Er will nicht Opfer, sondern Gestalter sein.

Die strategische, operative Konsequenz ist allerdings noch nicht präzise greifbar, im Alltag durchaus umstritten. Dies ist insbesondere im Blick auf Europa praktisch täglich zu beobachten.26 Europa tut sich weltpolitisch schwerer als sein Partner USA. Und das ist historisch durchaus plausibel. Es gab Zeiten, da löste das Europa-Thema eher Langeweile aus. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) war etabliert. Sie besaß Zuständigkeiten für den Agrarmarkt und den Außenzoll.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.